Wie das Immunsystem arbeitet – Fakten und Irrtümer Heidrun Wiesenmüller, 5. März 20255. März 2025 Um das Immunsystem ranken sich viele Mythen und es gibt häufig Missverständnisse darüber, wie das Immunsystem funktioniert. Auch in der Presse werden häufig unzutreffende Behauptungen darüber aufgestellt. Der folgende Text geht auf einige häufig gestellte Fragen ein und beantwortet diese wissenschaftsbasiert. Inhaltsverzeichnis Muss man sein Immunsystem »trainieren«? Schützen frühkindliche Infektionen Kinder vor Allergien? Schützt eine Erkältung vor der nächsten? Gibt es eine »Immunschuld« aufgrund der Corona-Hygienemaßnahmen? Warum sind so viele Menschen öfter krank, wenn es nicht an der »Immunschuld« liegt? Wie kann man sich vor Infektionen schützen? Das Immunsystem besteht aus zwei Teilen: Das angeborene Immunsystem ist von Geburt an vorhanden. Das erworbene Immunsystem wird im Laufe des Lebens erlernt. Gemeint ist damit das Kennenlernen von Erregern. Durch den erstmaligen Kontakt mit einem bestimmten Erreger werden passende Antikörper gebildet. Hat man zu einem späteren Zeitpunkt erneut Kontakt zu demselben Erreger, dann kann das erworbene Immunsystem darauf schneller reagieren und im besten Fall eine Erkrankung verhindern. Die folgende Darstellung konzentriert sich auf den Bereich der Viren. Dazu gehören u.a. Influenza-Viren, Corona-Viren, Rhinoviren, Enteroviren, Parainfluenza-Viren, Noroviren und Herpes-Viren. 1. Muss man sein Immunsystem »trainieren«? Im Zusammenhang mit dem Immunsystem ist das Wort »Training« irreführend. Denn das Immunsystem ist kein Muskel – es wird nicht dadurch stärker, dass es häufiger gegen einen eingedrungenen Krankheitserreger arbeiten muss. Am 29. Dezember 2021 twitterte Christian Drosten: »Wer glaubt, durch eine Infektion sein Immunsystem zu trainieren, muss konsequenterweise auch glauben, durch ein Steak seine Verdauung zu trainieren.«1 x.com/c_drosten Wichtig ist vielmehr, dass das Immunsystem einen Erreger kennenlernen kann und dadurch eine gewisse Immunität bekommt. Dies geschieht entweder durch eine Infektion oder durch eine Impfung. Eine Impfung ist dabei einer Erkrankung grundsätzlich vorzuziehen: Denn zum einen sind die Impfreaktionen in der Regel deutlich weniger beschwerlich als eine echte Erkrankung, zum anderen ist eine Infektion mit einem um ein Vielfaches höheren Risiko verbunden als eine Impfung. Dabei geht es nicht nur um die akute Krankheitsphase, denn virale Infektionen können auch schwere Spätfolgen nach sich ziehen. Man spricht vom postakuten Infektionssyndrom bzw. dem postviralen Syndrom.2 In der Ankündigung für das LCI-Symposium 2024 des Leibniz-Instituts für Virologie beispielsweise hieß es: »Langfristige Folgen einer Infektion können erhebliche Konsequenzen für die Gesundheit und Lebensqualität der Betroffenen haben. Nicht nur das akute Stadium der Infektion, sondern auch die postinfektiöse Phase rückt vermehrt in den Fokus der medizinischen Forschung. Langzeitfolgen können vielfältig sein und reichen von persistierenden Symptomen bis zu gesundheitlichen Komplikationen, aber auch sozialen und ökonomischen Problemen.«3 Das erlernte Immungedächtnis hält jedoch bei vielen Erregern nicht dauerhaft an, d.h. das Immunsystem »vergisst« den Erreger wieder und hält die zugehörigen Antikörper nur für einen begrenzten Zeitraum vor. Dies ist ein wichtiger Grund dafür, dass manche Impfungen regelmäßig aufgefrischt werden müssen. Eine passendere Metapher als das »Training« ist deshalb, dass den »Polizisten« des Immunsystems regelmäßig die »Fahndungsplakate« der entsprechenden Viren gezeigt werden müssen, damit sie diese im Ernstfall sofort erkennen und rasch reagieren können. Auch bei der Auffrischung des Immungedächtnisses ist eine Impfung grundsätzlich besser als eine Infektion. Neben der Zeit, die seit dem letzten Kontakt vergangen ist, spielt noch ein weiterer Aspekt dabei eine Rolle, dass das erlernte Immunsystem womöglich nicht mehr so gut mit einem Virus zurecht kommt: Viele Viren verändern sich regelmäßig so stark, dass die vorhandenen Antikörper nicht mehr gut passen. Dies ist auch der Grund dafür, warum z.B. Impfstoffe gegen Covid in bestimmten Abständen aktualisiert werden müssen. 2. Schützen frühkindliche Infektionen Kinder vor Allergien? Der Hintergrund für diese Frage ist die sogenannten Hygienehypothese. Wikipedia fasst sie so zusammen: »In der Medizin besagt die Hygienehypothese, dass die frühkindliche Exposition gegenüber bestimmten Mikroorganismen (wie der Darmflora und Helminthenparasiten) vor allergischen Erkrankungen schützt, indem sie zur Entwicklung des Immunsystems beitragen.«4 Hierbei muss man aber genau unterscheiden. Es ist korrekt, dass der Kontakt zu bestimmten, sogenannten symbiotischen Bakterien für Kinder wichtig ist. Deshalb sind z.B. Geburten per Kaiserschnitt nachteilig, weil das Baby dann nicht im Geburtskanal mit dem Mikrobiom der Mutter in Kontakt kommt. Günstig ist z.B. der frühkindliche Kontakt zu Tieren – auf Bauernhöfen lebende Kinder haben weniger Allergien als Stadtkinder. Ganz anders ist es beim Kontakt zu Viren: Virusinfektionen führen nämlich nicht zu weniger, sondern zu mehr Allergien. In einem Interview stellte man der Expertin Dr. Marsha Wills-Karp von der amerikanischen Johns Hopkins University5 die folgende Frage (es folgt eine deutsche Übersetzung, englisches Original siehe Fußnote): »Eltern, die von der Hygienehypothese gehört haben, machen sich Sorgen, dass es eine Kehrseite geben könnte bei all den verschnupften Nasen, die es [während der COVID-19-Pandemie] nicht gab. Haben Virusinfektionen denn auch Vorteile? Sind sie für das Immunsystem irgendwie hilfreich?«6 Dr. Wills-Karp antwortete: »Nein, das glaube ich nicht.Sie haben die Hygienehypothese erwähnt, die bereits in den 1980er Jahren aufgestellt wurde. Deutschen Wissenschaftler:innen fiel auf, dass es in Familien mit weniger Kindern tendenziell mehr Allergien gab. Dies wurde dahingehend interpretiert, dass es einen Zusammenhang zwischen Allergien und weniger durchlebten Infektionen gäbe. Mit dieser Idee beschäftige ich mich in meiner Forschung schon seit einigen Jahrzehnten.Das Phänomen hat uns geholfen, das Immunsystem zu verstehen, aber unsere Interpretation davon ist gewachsen und hat sich weiterentwickelt – insbesondere in Bezug auf Viren. Fast kein Virus schützt vor allergischen Erkrankungen oder anderen Immunkrankheiten. Vielmehr tragen Infektionen mit Viren zumeist entweder zur Entwicklung solcher Krankheiten bei oder verschlimmern sie.Bei Bakterien ist genau das Gegenteil der Fall. Es gibt gute und schlechte Bakterien. Die guten nennen wir symbiotische Bakterien. (…) Im Laufe der Jahre haben wir gelernt, dass der Zusammenhang mit dem Familienleben und der Umwelt wahrscheinlich mehr mit dem Mikrobiom zu tun hat. Eine Sache, die ich deshalb sagen würde: Es ist wahrscheinlich keine gute Idee, alle Oberflächen in Ihrem Haus extrem zu desinfizieren. Unser Forschungsteam konnte bei Tieren nachweisen, dass sich das Immunsystem in einer sterilen Umgebung überhaupt nicht entwickeln kann. Das wollen wir natürlich nicht.«7 Dass frühkindliche Virusinfektionen Kinder tatsächlich nicht gesünder, sondern kränker machen, zeigte eine 2024 veröffentlichte große dänische Studie. In dieser wurde die gesundheitliche Entwicklung bei einer Kohorte von 700 Kindern von ihrer Geburt in den Jahren 2008 bis 2010 bis zum Alter von 10 bis 13 Jahren verfolgt. Dabei hatten Kinder mit einer hohen Zahl von Infektionen in den ersten drei Lebensjahren ein deutlich höheres Risiko für moderate bis schwerere Infektionen in den späteren Kindheitsjahren; ihnen mussten auch mehr Antibiotika verschrieben werden als Kindern mit weniger frühkindlichen Infektionen.8 Eine andere Studie (aus Irland) ergab, dass während der Lockdowns geborene Babys nicht mehr, sondern sogar weniger Allergien entwickelten als sonst üblich.9 Die Tatsache, dass ein Kontakt zu bestimmten Bakterien für das Immunsystem von Kindern nützlich ist, lässt sich also nicht auf Virusinfektionen übertragen. Diese sind nicht nützlich, sondern schädlich. 3. Schützt eine Erkältung vor der nächsten? Viele Menschen glauben, es sei wichtig, sich in jeder Erkältungssaison mindestens einen grippalen Infekt »abzuholen«, um dadurch vor dem nächsten besser geschützt zu sein. Dies klingt zunächst logisch, da es keine Impfung gegen gewöhnliche Erkältungen gibt und – wie im Abschnitt 1 erläutert – das Immunsystem durch den Kontakt mit einem Erreger lernt, diesen besser und schneller zu bekämpfen. Bei Rhinoviren, dem Hauptverursacher normaler Erkältungen, funktioniert dies jedoch aus zwei Gründen nicht: Zum einen gibt es ca. 150 verschiedene Varianten davon, die sich noch dazu ständig verändern.10 In jeder Saison kursieren ca. 15 bis 20 verschiedene Virusstränge. Hat man sich mit einem davon angesteckt, kann man sich also ohne Weiteres direkt danach mit einem anderen infizieren. Zum anderen haben Rhinoviren einen cleveren Mechanismus entwickelt, der dazu führt, dass die menschliche Immunantwort dagegen ins Leere läuft – denn die aufgebauten Antikörper richten sich gegen den falschen Teil des Virus.11 Eine Erkältung schützt also nicht vor der nächsten; vielmehr macht sie den Körper für eine gewisse Zeit anfälliger für weitere Infektionen (siehe Abschnitt 5). Man kann die Zahl der Erkältungen jedoch mit Hygiene- und Infektionsschutzmaßnahmen verringern (siehe Abschnitt 6). 4. Gibt es eine »Immunschuld« aufgrund der Corona-Hygienemaßnahmen? Häufig war und ist in der Presse zu lesen, Maskenpflichten und andere Schutzmaßnahmen gegen das Coronavirus seien Schuld daran, dass es nach deren Aufhebung zu mehr Viruserkrankungen gekommen sei – etwa zu einer sehr hohen Zahl an RSV-Infektionen im Winter 2022/23. Durch das vorangegangene Vermeiden von Infektionen habe sich eine sogenannte »Immunschuld« aufgebaut. Zunächst ist festzustellen, dass »Immunschuld« kein wissenschaftlich anerkanntes Konzept ist und vor Beginn der Coronapandemie in der Immunologie völlig unbekannt war. Der Begriff wurde erstmals 2021 in einem Positionspapier – also keiner wissenschaftlichen Studie – verwendet.12 In dem besagten Artikel wurde übrigens keineswegs ein Abbau der »Immunschuld« durch Infektionen empfohlen, sondern stattdessen ein intensiviertes Impfprogramm für Frankreich. Kurz danach wurde der Begriff von einer Wirtschaftszeitung (!), dem Wall Street Journal, aufgegriffen.13 Seither war und ist die Idee enorm erfolgreich, weil sie in Verbindung mit der irrtümlichen Vorstellung eines dauerhaft nötigen »Trainings« des Immunsystems (siehe Abschnitt 1) eine einfache Erklärung für die seit einigen Jahren sehr hohen Infektionszahlen zu bieten scheint. In einer kanadischen Zeitung wurde das Narrativ der »Immunschuld« im Januar 2025 folgendermaßen kommentiert (es folgt eine deutsche Übersetzung, englisches Original siehe Fußnote): »Das Konzept der ›Immunschuld‹ bot eine einfache, leicht verständliche Erklärung, die von Medien, Wissenschaftler:innen und Ärzt:innen immer wieder wiederholt wurde, bis sie sich in der Bevölkerung festsetzte. So funktioniert die Verbreitung von Falsch- bzw. Desinformation. Wer darauf hinwies, dass das Immunsystem überhaupt nicht so funktioniert, wurde von diesem lauten Chor übertönt. Bis zum heutigen Tag hält sich das frei erfundene und irreführende Konzept der ›Immunschuld‹ hartnäckig.«14 Richtig ist, dass sich während der Schutzmaßnahmen deutlich weniger Menschen mit Viren wie RSV infiziert haben. Deshalb standen nach deren Aufhebung relativ viele potenzielle »Wirte« zur Verfügung, bei denen die Erinnerung an einen früheren Kontakt bereits verblasst war oder die (wenn es um kleine Kinder ging) noch nie mit dem Erreger in Kontakt gekommen waren. Isabella Eckerle, die Leiterin des Zentrums für neuartige Viruserkrankungen an der Universitätsklinik Genf, erklärte dies folgendermaßen: »Das kann man sich vielleicht vorstellen wie wenn man jetzt zwei Jahre lang keine Kinder einschulen würde, dann hätte man plötzlich sehr große erste Klassen, weil man einfach zwei Jahre lang keine erste Klasse hatte«.15 Ein besser passender Begriff für diesen temporären Effekt ist »Immunitätslücke«. Der Begriff »Immunschuld« ist auch aus einem anderen Grund unzutreffend, denn er suggeriert: »Wer Infektionen umgeht, nimmt Rückstände beim ›Immuntraining‹ in Kauf, die früher oder später nachgeholt werden müssen. Auch diese Annahme ist falsch. ›Es ist jetzt nicht so, dass man fünfmal im Jahr eine Erkältung kriegen muss‹, sagte Virologin Eckerle, ›und wenn ich zwei Jahre ausgesetzt habe, dann habe ich ein Jahr, wo ich mit 15 Erkältungen in den Schulden stehe und deswegen muss ich die alle in diesem Jahr bekommen. Das ist natürlich Quatsch.‹ Ein ›Infektionskonto‹ gibt es nicht. Wer weniger krank ist, ist einfach weniger krank – und hat deshalb trotzdem ein gesundes Immunsystem. Auch mit weniger Infekten rostet es nicht ein.«16 Eingängig fasste Isabella Eckerle dies in einem Tweet vom 23. November 2022 zusammen: »Service-Tweet: Es gibt kein ›Infektions-Konto‹, das man abarbeiten muss, damit man am Ende des Jahres bei null ist. Wenn man sich weniger ansteckt als der Durchschnitt, dann muss man das nicht später nachholen. Man ist dann einfach weniger krank & fehlt weniger (z.B. Schule).«17 x.com/EckerleIsabella Mittlerweile liegen die Corona-Schutzmaßnahmen mehrere Jahre zurück und es gab seitdem mehrere große Infektionswellen, sodass die temporäre »Immunitätslücke« längst geschlossen wurde. Es ist deshalb falsch, die Maßnahmen auch jetzt noch als Begründung für erhöhte Krankenstände anzuführen. Darauf wies Eva Untersmayr-Elsenhuber, eine der beiden Leiterinnen des Referenzzentrums für postvirale Syndrome an der MedUni Wien, in einem Interview vom Februar 2025 hin: »Das Argument, dass die Kontaktbeschränkungen, die nun schon Jahre her sind, nach wie vor negative Auswirkungen auch auf das Immunsystem hätten, kann Untersmayr-Elsenhuber nicht nachvollziehen. ›Die Lockdowns sind schon sehr lang vorbei‹, gab sie zu bedenken.«18 Die Erklärung ist auch deshalb unplausibel, da die in den letzten Wintern zu beobachtenden Infektionszahlen z.B. bei RSV deutlich höher sind als die Zahl der aufgrund der Maßnahmen möglicherweise »ausgefallenen« Infektionen.19 Auch ist vielfach die jüngste Altersgruppe besonders stark von den Infektionswellen betroffen, obwohl diese Kinder erst nach Ende der Schutzmaßnahmen geboren wurden. 5. Warum sind so viele Menschen öfter krank, wenn es nicht an der »Immunschuld« liegt? Die Zahl der Virusinfektionen hat sich in den letzten Jahren gegenüber der Zeit vor der Corona-Pandemie deutlich erhöht. Die Bevölkerung leidet öfter und länger an Virusinfektionen, als dies früher der Fall war. Wenn dies nicht mit einer angeblichen »Immunschuld« begründet werden kann (siehe Abschnitt 4), was könnten dann die Gründe dafür sein? Eine Ursache dafür ist fraglos, dass zu den klassischen Virusinfektionen wie Influenza und RSV mit Covid ein weiteres Virus dazu gekommen ist, mit dem man sich infizieren kann. Da sich SARS-CoV-2 sehr dynamisch verändert und sich viele Menschen nicht mehr regelmäßig dagegen impfen lassen, steckt sich jedes Jahr ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung – unter Umständen sogar mehrmals – mit Covid an. Das Problem wird dadurch verschärft, dass kaum Infektionsschutz betrieben wird und es zunehmend für normal gehalten wird, selbst krank zur Arbeit zu gehen oder seine Kinder krank in Kita und Schule zu schicken. Dazu kommt, dass sich das Immunsystem nach jeder Infektion (egal mit welchem Virus) für einen mehr oder weniger langen Zeitraum regenerieren muss und während dieser Phase nicht so gut einsatzfähig ist wie sonst. Die Immunologin Martina Prelog erläuterte dies im März 2023 so: »Während und nach einer Infektion kann die Reaktionsfähigkeit des Immunsystems (…) vorübergehend schwächer sein. In dieser Phase haben es andere Krankheitserreger leichter und zur ersten Infektion können weitere Infektionen hinzukommen. Auf eine durch Viren ausgelöste Atemwegserkrankung folgt dann zum Beispiel eine bakterielle Lungenentzündung. Eine solche zusätzliche Infektion wird auch Superinfektion genannt.«20 Allein durch die zusätzlichen Covid-Infektionen und die mitunter darauf folgenden Superinfektionen dürfte sich die Krankheitslast in der Bevölkerung merklich erhöht haben. Darüber hinaus kann nach dem aktuellen Stand der Forschung nicht ausgeschlossen werden, dass SARS-CoV-2 das menschliche Immunsystem auch längerfristig negativ beeinflusst. So ergab eine Studie der MedUni Wien im Jahr 2024, »dass COVID-19 selbst bei mildem Verlauf zu beträchtlichen Langzeitveränderungen des Immunsystems führt«. Zehn Monate nach der Erkrankung »zeigte sich den Forscher:innen ein unerwartetes Bild: ›Selbst nach milden Krankheitsverläufen stellten wir eine deutliche Verringerung von Immunzellen im Blut fest‹, nennt Winfried Pickl Details aus der Studie. Daneben wurden der bekannte Abfall SARS-CoV-2-spezifischer Antikörper und eine erstaunliche Veränderung der Wachstumsfaktormuster im Blut beobachtet. Für COVID-19-Genesene bedeutet das, dass ihr Immunsystem möglicherweise nicht mehr optimal reagiert.«21 Dies war nicht die erste Studie, die nahelegt, dass sich Covid-Infektionen längerfristig – evtl. sogar dauerhaft – negativ auf das Immunsystem auswirken können. Eine Zusammenstellung einschlägiger Studien zu einer möglichen vorzeitigen Alterung des Immunsystems durch Sars-CoV-2 bietet ein Review-Artikel deutscher Forscherinnen vom Dezember 2024.22 Darin heißt es u.a. (es folgt eine deutsche Übersetzung, englisches Original siehe Fußnote): »Die Infektion selbst kann Merkmale der Immunoseneszenz verstärken und zu einer beschleunigten Immunalterung führen. Dieses Phänomen könnte nicht nur ältere Menschen betreffen, sondern auch solche, die in jüngeren Jahren mit COVID-19 infiziert waren, und sich möglicherweise auf den Verlauf ihrer Immunalterung auswirken.«23 Ebenso wird zunehmend diskutiert, dass eine COVID-19-Infektion bei manchen Menschen langfristige Veränderungen auslösen könnte, die über eine mögliche Immunalterung hinausgehen. So weisen erste Untersuchungen darauf hin, dass es zu Autoimmunreaktionen kommen kann, bei denen das Immunsystem körpereigene Zellen angreift und damit das Risiko für bestimmte Erkrankungen (z.B. rheumatoide Arthritis, Lupus, Psoriasis oder Typ-1-Diabetes) erhöht.24 Zudem gibt es Hinweise auf eine virale Persistenz, bei der Virusbestandteile über längere Zeit im Körper verbleiben und chronische Entzündungsprozesse befeuern können.25 Diese Mechanismen könnten wiederum die Anfälligkeit für andere Infektionen steigern oder zur Reaktivierung latent vorhandener Viren führen (bspw. EBV), was den Gesundheitszustand langfristig beeinträchtigt.26 6. Wie kann man sich vor Infektionen schützen? Die Bedeutung der Impfungen gegen Viruserkrankungen wurde bereits angesprochen (siehe Abschnitt 1). Auch wenn Impfungen oft eine Ansteckung nicht verhindern können, so verringern sie doch typischerweise die Dauer und Schwere einer Erkrankung und senken das Risiko für Langzeitfolgen wie z.B. Long Covid.27 Leider werden diese Aspekte in den Empfehlungen der Ständigen Impfkommission (STIKO) nicht wirklich berücksichtigt, sodass insbesondere die Impfungen gegen Grippe und Covid nicht so breit empfohlen werden, wie es wünschenswert wäre. In der Regel kann man jedoch auch dann eine (Auffrischungs-)Impfung erhalten, wenn man nicht unter die STIKO-Empfehlung fällt.28 In der Presse und im Internet finden sich zahllose Tipps dafür, wie man sein Immunsystem »stärken« kann, z.B. durch genügend Schlaf, viel Bewegung an der frischen Luft und vitaminreiches Essen. Tatsächlich kann z.B. ein Vitamin-D-Mangel, wie er in unseren Breiten nicht selten vorkommt, dazu führen, dass das Immunsystem nicht optimal arbeitet. Viel wichtiger und wirksamer als der Versuch, das Immunsystem zu »stärken«, sind jedoch andere Vorkehrungen, um sich vor Infektionen zu schützen. Dazu muss man die wichtigsten Übertragungswege kennen. Bei einer Schmierinfektion nimmt man Viruspartikel durch das Berühren von Oberflächen auf und fasst sich danach z.B. an Mund oder Nase. Hier hilft am besten Händewaschen sowie ggf. das Desinfizieren bestimmter Objekte. Vor einer Tröpfcheninfektion – z.B. wenn man von einer kranken Person angeniest oder angehustet wird – kann man sich mit ausreichend Abstand schützen. Inzwischen weiß man allerdings, dass viele Viren in erster Linie über die Luft übertragen werden: Die ausgeatmeten Krankheitserreger können als Bestandteile sogenannter Aerosole größere Strecken zurücklegen, sich großräumig verteilen und längere Zeit in der Luft verbleiben. Deshalb kann man sich – vor allem in Innenräumen – auch dann infizieren, wenn man weit von der infektiösen Person entfernt ist oder sogar, wenn diese den Raum längst verlassen hat. Die Aerosolübertragung ist z.B. bei Grippe, Covid oder Masern, aber auch bei gewöhnlichen Erkältungsviren von großer Bedeutung.29 Einen hervorragenden Schutz vor Aerosolen bieten gut sitzende FFP2-Masken, wie sie während der Hochphase der Corona-Pandemie bekannt wurden.30 Atemschutzmasken schützen ebenso vor Tröpfcheninfektionen und teilweise auch vor Schmierinfektionen (da sie daran hindern, sich ins Gesicht zu fassen). Gerade in Situationen, bei denen das Ansteckungsrisiko hoch ist und das Tragen einer Maske nicht stört (z.B. beim Arzt oder im öffentlichen Nahverkehr), kann man sich mit einer FFP2-Maske viele Infektionen sparen. In Innenräumen lässt sich das Ansteckungsrisiko außerdem dadurch verringern, dass man für saubere Luft sorgt – durch regelmäßiges Lüften und/oder den Einsatz von Luftfiltergeräten. So zeigte beispielsweise eine Studie aus Finnland, dass der Einsatz von Luftfiltern in Kitas Atemwegserkrankungen bei den Kindern um ca. 30 % senkte.31 Wenn das Wetter es erlaubt, kann man Treffen außerdem ins Freie verlagern, wo das Ansteckungsrisiko deutlich geringer ist als drinnen. Schließlich sollten alle dadurch einen Beitrag zum Infektionsschutz leisten, indem sie Rücksicht auf andere nehmen und nicht krank unter Menschen gehen oder ihre Kinder krank in Schule oder Kita schicken. Dieselbe Rücksichtnahme darf man auch von anderen einfordern, z.B. wenn man eine Familienfeier veranstaltet. Seine potenziellen Gäste zu bitten, daheim zu bleiben, wenn sie krank sind, ist nicht unhöflich, sondern fürsorglich – sowohl gegenüber den Erkrankten selbst (die sich auskurieren sollten) als auch gegenüber den anderen Teilnehmenden. Lizenzhinweis:Dieser Artikel ist unter der CC0 1.0 Universell (Public Domain Dedication) lizenziert. Eine Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung und Verbreitung ist ohne Einschränkungen und ohne Quellenangabe möglich. Referenzen Tweet von Christian Drosten vom 29.12.2021, https://x.com/c_drosten/status/1476192189793411076. ↩︎Vgl. den Wikipedia-Artikel: https://de.wikipedia.org/wiki/Postakutes_Infektionssyndrom. ↩︎Langfristige Folgen von Infektionen im Fokus, https://www.leibniz-liv.de/aktuelles/news-und-presse/langfristige-folgen-von-infektionen-im-fokus. ↩︎Wikipedia-Artikel, https://de.wikipedia.org/wiki/Hygienehypothese. ↩︎Is the Hygiene Hypothesis True? Did Covid shutdowns stunt kids‘ immune systems, 25.10.2022, https://publichealth.jhu.edu/2022/is-the-hygiene-hypothesis-true. ↩︎Im englischen Original: “[T]here’s some concern among parents who have heard about the hygiene hypothesis that there is a downside to all those stuffy noses that didn’t happen [during the COVID-19 pandemic]. Are there any upsides to viral infections? Do they help the immune system in some meaningful way?” ↩︎Im englischen Original: “I don’t think so. You mentioned the hygiene hypothesis, which was postulated back in the ‘80s. German scientists noticed that families with fewer children tended to have more allergic disease. This was interpreted [to mean] that allergic disease was linked to experiencing fewer infections. I have explored this idea in my research for a couple of decades now. This phenomenon has helped us to understand the immune system, but our interpretation of it has grown and expanded—particularly with respect to viruses. Almost no virus is protective against allergic disease or other immune diseases. In fact, infections with viruses mostly either contribute to the development of those diseases or worsen them. The opposite is true of bacteria. There are good bacteria and there are bad bacteria. The good bacteria we call commensals. (…) What we’ve learned over the years is that the association with family life and the environment probably has more to do with the microbiome. So one thing I would say is sanitizing every surface in your home to an extreme is probably not a good thing. Our research team showed in animals that sterile environments don’t allow the immune system to develop at all. We don’t want that.” ↩︎Vgl. Early-life infection burden continues throughout childhood, new data reveal, 06.01.2025, https://www.cidrap.umn.edu/antimicrobial-stewardship/early-life-infection-burden-continues-throughout-childhood-new-data. ↩︎Vgl. ‚Pandemic babies‘ show altered gut microbiome development and lower allergy rates, study finds, 29.02.2024, https://www.news-medical.net/news/20240229/Pandemic-babies-show-altered-gut-microbiome-development-and-lower-allergy-rates-study-finds.aspx. ↩︎Vgl. Stimmt: Gegen Erkältung wird man nie immun, 21.10.2022, https://www.mdr.de/wissen/faktencheck/faktencheck-erkaeltung-100.html. ↩︎Vgl. Warum wir gegen Schnupfen nicht immun werden, 13.03.2012, https://www.meduniwien.ac.at/web/ueber-uns/news/detail/warum-wir-gegen-schnupfen-nicht-immun-werden. ↩︎Pediatric Infectious Disease Group (GPIP) position paper on the immune debt of the COVID-19 pandemic in childhood, how can we fill the immunity gap?, https://doi.org/10.1016/j.idnow.2021.05.004. ↩︎Vgl. Warum hinter „Immunschuld“ ein Missverständnis steckt, 27.12.2022, https://www.br.de/nachrichten/wissen/immunschuld-warum-dahinter-ein-missverstaendnis-steckt,TQBXYXj. ↩︎ANALYSIS: Why are B.C. kids sick all the time? Health experts explain, 10.01.2025, https://www.surreynowleader.com/opinion/analysis-why-are-bc-kids-sick-all-the-time-health-experts-explain-7752521. Im englischen Original: “‘Immunity debt’ provided a simple, easy-to-grasp explanation that was repeated over and over by media, scientists and physicians alike, until it took hold in the population. This is how dis/misinformation spreads. Anyone who pointed out that’s not how the immune system works was drowned out by this loud chorus. To this day, the purely made up and misleading concept of ‘immunity debt’ stubbornly endures.” ↩︎ RSV-Welle bei Kindern: Ist eine „Immunschuld“ die Ursache? 08.12.2022, https://www.rnd.de/gesundheit/rsv-welle-bei-kindern-ist-eine-immunschuld-die-ursache-LYUYPN2WRZCBNNCM4PPVDCPMVQ.html. ↩︎Ebenda. ↩︎Tweet von Isabella Eckerle vom 23.11.2022, https://x.com/EckerleIsabella/status/1595354351870042115. ↩︎Post Covid ist auch 5 Jahre nach Pandemiestart ein Problem, 16.02.2025, https://www.sn.at/panorama/wissen/post-covid-jahre-pandemiestart-problem-173617633. ↩︎Vgl. Five years of the COVID-19 pandemic. An interview with Dr. Arijit Chakravarty, 30.12.2024, https://www.wsws.org/en/articles/2024/12/31/zgyj-d31.html. ↩︎Schwächen Covid-Infektionen das Immunsystem? 05.03.2023, https://www.br.de/nachrichten/wissen/immunschwaeche-coronavirus-schwaechen-covid-19-infektionen-das-immunsystem,TX9SFW4. ↩︎SARS-CoV-2-Infektionen verändern das Immunsystem nachhaltig, 15.07.2024, https://www.meduniwien.ac.at/web/ueber-uns/news/2024/news-im-juli-2024/sars-cov-2-infektionen-veraendern-das-immunsystem-nachhaltig/. Vgl. dazu auch: Covid-Infektion kann Immunzellen langfristig reduzieren, 16.07.2024, https://www.derstandard.de/story/3000000228483/covid-infektion-kann-immunzellen-langfristig-reduzieren. ↩︎The impact of COVID-19 on accelerating of immunosenescence and brain aging, 10.12.2024, https://doi.org/10.3389/fncel.2024.1471192. ↩︎Im englischen Original: “[T]he infection itself may exacerbate features of immunosenescence, leading to accelerated immune aging. This phenomenon could affect not only older individuals but also those who experienced COVID-19 at a younger age, potentially changing the trajectory of their immune aging”. ↩︎Vgl. Risk of autoimmune diseases in patients with COVID-19. A retrospective cohort study, 09.01.2023, https://doi.org/10.1016/j.eclinm.2022.101783. ↩︎Vgl. Persistent circulating severe acute respiratory syndrome coronavirus 2 spike is associated with post-acute Coronavirus disease 2019 sequelae, 01.02.2023, https://doi.org/10.1093/cid/ciac722. ↩︎Incidence of Epstein-Barr virus reactivation is elevated in COVID-19 patients, 26.06.2023, https://doi.org/10.1016/j.virusres.2023.199157. ↩︎COVID Vaccines Reduce Long COVID Risk, New Study Shows, 02.09.2024, https://www.yalemedicine.org/news/covid-vaccines-reduce-long-covid-risk-new-study-shows. ↩︎Wenn es nicht in der Hausarztpraxis geht, findet sich oft eine Möglichkeit in einer anderen Praxis oder einer Apotheke. Bei Bedarf helfen ehrenamtliche Initiativen wie »Bildung Aber Sicher« (https://bildungabersicher.net/) oder »Safe Air Docs« (https://safeairdocs.de/) weiter. ↩︎Vgl. Arosolforschung und Infektionsmedizin. Ansteckungen und Infektionen: Welche Tröpfchen und Aerosole wirklich gefährlich sind, 14.11.2023, https://www.mdr.de/wissen/aerosol-forschung-infektionsmedizin-troepfchen-entstehung-102.html. ↩︎Masks and respirators for prevention of respiratory infections. A state of the science review, 22.05.2024, https://doi.org/10.1128/cmr.00124-23. ↩︎The effect of room air cleaners on infection control in day care centres, 11.03.2024, https://doi.org/10.1016/j.indenv.2024.100007. ↩︎ Ratgeber ⭐️
Covid-19 und meldepflichtige Krankheiten in Gemeinschaftseinrichtungen: Wie Sie das Gesundheitsamt informieren können 17. August 202420. August 2024
Danke für die ausgezeichnete Zusammenfassung. Alles, was wir in den letzten 5 Jahren thematisiert haben, perfekt zusammengefasst und referenziert. Antworten